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Zeitstress in der Prüfung

Zeitstress in der Prüfung

Zeitstress in der Prüfung? Ein bekanntes Phänomen. In meiner Lernpraxis höre ich oft: «Ich weiss, dass ich das gekonnt hätte – aber die Zeit reichte nicht mehr.» Andere erzählen, dass sie gemütlich arbeiten, bis die Ansage «noch fünf Minuten» sie in pure Panik stürzt. Oder sie «verschlimmbessern» in den letzten zehn Minuten – hektisch und ohne Plan.

Meine frohe Botschaft ist dann jeweils: «Den Umgang mit Zeitstress in der Prüfung kannst du lernen!» Oder besser gesagt: Trainieren. Denn es geht hier nicht um Verstehen, sondern um die kontinuierliche Verbesserung der eigenen Handlung. Sozusagen Handwerk.

Zuhause: Zuviel Zeit und immer dasselbe Tempo

Viele Lernende vertrödeln zuhause unendlich viel Zeit. Nein, nicht nur wegen der Ablenkung durch Smartphones, sondern ganz schlicht deshalb, weil unendlich viel Zeit zur Verfügung steht. Zuhause kommt es ja nicht so sehr darauf an, ob jemand zwanzig oder vierzig Minuten für eine bestimmte Aufgabe hat, nicht wahr? In der Prüfung dann aber schon.

In der Lernphase – also wenn ich mein Wissen und Können aufbaue – ist es wichtig, ein langsames Tempo anzuschlagen. Ich brauche immer ein gutes Gefühl von: «Ja, das verstehe ich.» Dies ist übrigens meiner Meinung nach auch der Grund, weshalb die lieben Kids relativ rasch und oft in voller Überzeugung sagen: «Ich kann das!» – sehr zur Verblüffung der Eltern, die skeptisch sind, ob das wirklich in der kurzen Zeit schon sitzen kann.

Doch wer Zeitstress in der Prüfung vermeiden will, ist an diesem Punkt noch nicht fertig. Jetzt lohnt sich die Nachfrage: «Aber kannst du es auch, wenn die Zeit knapp wird?» Denn zum allgemeinen Prüfungsdruck kommt ja dann auch noch Zeitdruck hinzu.

Der Druck in der Prüfung erklärt auch dieses Phänomen: «Zuhause kann sie immer alles – in der Prüfung macht sie viele unnötige Fehler.» Prüfungs- und Zeitdruck!

In der Prüfung ist das Gehirn unter Druck

Im Artikel «Was passiert bei Zeitdruck im Gehirn?» im Wissenschaftsmagazin «Spektrum» wird erklärt, welche Auswirkungen Zeitstress auf unser Gehirn hat. Das Wichtigste in Kürze: Unsere Denkleistung wird bei starkem Zeitdruck deutlich eingeschränkt: «Daneben beeinträchtigt starker Zeitdruck kognitive Fähigkeiten wie Wahrnehmung, Lernen und exekutive Funktionen, beispielsweise das Wechseln zwischen verschiedenen Aufgaben.»

Am Anfang einer Prüfung hat der Zeitdruck zwar eine positive Wirkung: «Der Stressauslöser förderte unmittelbar das Abrufen von Gedächtnisinhalten, und die Aktivierung des vegetativen Nervensystems ging mit einer gesteigerten Leistung einher.» Doch, leider nur für kurze Zeit: «danach war das Erinnerungsvermögen messbar beeinträchtigt.»

Ich durfte einmal einen 13-jährigen Jungen beraten, der in der zweiten Hälfte der Prüfung jeweils markant mehr Fehler machte als in der ersten Hälfte. Seine Lösung sah so aus: Nach rund 20 Minuten in der Prüfung legte er den Kopf kurz in die Hände – 1 Minute genügte ihm – schloss die Augen und ruhte sich aus. Das hat Mut gebraucht! Wer macht schon eine Pause mitten in der Prüfung? Aber er hielt dieses Prinzip eisern durch und kam so zum gewünschten Erfolg: Seine Fehlerquote in der zweiten Hälfte war deutlich tiefer.

Training gegen Zeitstress in der Prüfung:

Zeitstress in der Prüfung kann – zumindest teilweise – durch Training verkleinert werden. Natürlich ist wichtig, dass vorher gut gelernt wurde! Genau dann, wenn sich das Gefühl «ich kann das» einstellt, kommt der Zeitpunkt, um dieses Bauchgefühl auf die Probe zu stellen und gegen die Uhr zu arbeiten.

Schlau ist, wer beim Lernen schon herausfindet, wie viel Zeit (ungefähr) für das Lösen einer Aufgabe nötig ist. (Warum es ratsam ist, ein Zeitgefühl fürs Lernen zu entwickeln, habe ich hier erklärt.) Sagen wir: Es dauerte 5 Minuten, zwei Matheaufgaben zu lösen. Also lautet die Herausforderung: «Schaffe ich zwei neue, ähnliche Aufgaben auch in drei Minuten?»

Meine Empfehlung lautet also: Immer wieder einmal einen Wecker benutzen und gegen die Zeit arbeiten. Zugegeben, das kann am Anfang ein bisschen nervös machen. Aber besser zu Hause nervös, als vom Zeitstress in der Prüfung überrascht zu werden!

Nicht verboten ist es übrigens, die Lehrpersonen zu fragen, wie viel Zeit für eine bestimmte (Haus)aufgabe eigentlich vorgesehen ist. Manche Lehrpersonen wissen das selber nicht so genau – und da stellt sich durch Nachfrage und gemeinsames Experimentieren mit der Zeit vielleicht sogar die Erkenntnis ein: «Diese Aufgaben sind einfach zu viel.»

Tempomotivation erleben

Bei manchen meiner Klienten, die regelmässig stundenlang über ihren Büchern brüten, hat die Arbeit mit dem Wecker noch einen zweiten, hoch willkommenen Effekt: Der Wettkampf gegen die Zeit macht eine möglicherweise langweilige Sache plötzlich spannend. Da ist plötzlich mehr Konzentration und auch Lust, die Aufgabe innerhalb der gegebenen Zeit zu erledigen – anders gesagt: «Tempomotivation» stellt sich ein.

Warum also nicht ein bisschen experimentieren?

  • Wie langsam oder schnell muss ich lernen, damit es mir gut geht und ich mir die Dinge gut merken kann?
  • Hilft es, wenn ich ein bisschen Gas gebe – und wieviel Druck ist gut?
  • Kann ich den Zeitdruck ein klein wenig steigern, um mich auf die Prüfungssituation vorzubereiten?
  • Was passiert, wenn ich voll auf die Tube drücke? Mache ich jetzt viele Flüchtigkeitsfehler?

Strategie gegen Zeitstress in der Prüfung festlegen

Wie wichtig eine gute Strategie für die Prüfung ist, zeigt folgendes Beispiel: Eine junge Maturandin schaute alle eineinhalb Minuten auf die Uhr und dachte: «Ogott, das schaff ich nie…» Letztlich beschäftigte sie sich in der Prüfung fast ausschliesslich mit ihrem Zeitproblem, nicht aber mit den eigentlichen Aufgaben. Sie hat eisern trainieren müssen, um sich selbst dazu zu bringen, nicht ständig auf die Uhr zu schauen. Der erste Schritt war, ein Gespür zu entwickeln für einen längeren Zeitraum in guter Konzentration – 15 bis 20 Minuten. Den Blick auf die Uhr gönnte sie sich dann, wenn sie sowieso gerade eine kleine Denkpause benötigte, ihre Gedanken abschweiften oder die Konzentration nachliess. Und: Der Blick auf die Uhr diente dazu, die verbleibende Zeit mit ihrer Strategie abzugleichen. Dadurch entstanden bei ihr – dank des Trainings! – realistische Gedanken: «Ich bin gut in der Zeit.» Dafür war aber ein Fahrplan nötig – ihre Prüfungsstrategie.

Für wichtige Prüfungen lohnt es sich, eine Strategie festzulegen. Hier ein Beispiel für eine klassische Aufsatz-Strategie bei 60 Minuten Zeit: 15-20 Minuten Ideen sammeln und ordnen; 30-35 Minuten schreiben; 10 Minuten kontrollieren.

Ganz wichtig ist, im Stress dann wirklich auch bei der gewählten und trainierten Strategie zu bleiben. Wenn damit geübt wurde, stellt sich rasch Zuversicht ein: «Ich bin gut unterwegs. Ich hab’s im Griff. Zeitstress in der Prüfung? Betrifft mich nicht.»

(Übrigens: Je komplexer die Prüfung, desto genauer sollten Strategie und Training angepasst werden. Falls Sie vor einer grösseren Prüfung stehen und Ihre Strategie noch nicht gefunden haben – schreiben Sie mir eine Mail oder rufen Sie an. In einer Stunde lässt sich das gut klären.)