Blog

Zeugnisnoten – wie umgehen damit?

Zeugnisnoten

Zeugnisnoten – und Noten ganz allgemein – gehören momentan zu unserem Schulsystem, ob uns das gefällt oder nicht. (Mir persönlich gefällt es nicht.) Wir dürfen auch geteilter Meinung sein über den Nutzen oder Wert von Zeugnissen. Watson hat hier einen klugen Artikel darüber veröffentlicht, weshalb Noten aus Schweizer Schulen wohl gar nicht wegzudenken sind. Diskussionen über Sinn oder Unsinn von Noten werden oft intensiv und hitzig geführt – allerdings ohne einen wichtigen Aspekt anzusprechen: Wie lernen Kinder überhaupt, mit Zeugnisnoten vernünftig umzugehen? Denn, egal, wie wir über Noten denken: Solange es sie gibt in der Schule, sollten wir Kindern helfen, damit auf eine Weise umzugehen, die ihnen nützt und nicht schadet.

Die Angst vor den Zeugnisnoten

Es kann Zufall sein, doch in letzter Zeit häuften sich bei mir der Lernpraxis Fälle von Kindern und Jugendlichen, die sich grosse Sorgen um ihre Zeugnisnoten machen. Die einen, weil sie in einem oder mehreren Fächern ungenügend sind und sich über ihre Versetzung oder Einstufung Gedanken machen. Oder das Gegenteil: SchülerInnen, deren Noten so gut sind, dass ihnen die Vorstellung Angst macht, sie könnten einmal nicht perfekt sein. Und was dann? «Ein Fünfeinhalber würde sich anfühlen wie eine Katastrophe», erklärte mir eine Vierzehnjährige in vollem Ernst. «Mit einer schlechten Note würde ich mich dumm fühlen», gestand ein Dreizehnjähriger. Beide machten klar, dass ihnen alleine die Vorstellung schon Sorgen bereitete. So viel Kummer – kann das Sinn und Zweck der Noten sein?

Ständige Bewertung – schwer auszuhalten!

Heutige Kinder sind dicht eingespannt in ein gesellschaftliches System, in dem alles ständig bewertet wird. In den Sozialen Medien, in den beliebten Talent-Shows, in Zeitungen, in der Clique – ständig wird bewertet, geratet, geliked und somit letztlich benotet. (Falls Sie dieses Thema beschäftigt, lege ich Ihnen den Film «Das Dilemma mit den sozialen Medien» ans Herz.) Zwar dürfen wir im Reality-TV dabei zusehen, wie Menschen enttäuscht zusammenbrechen, wenn die Bewertung nicht wunschgemäss ausgefallen ist – aber wo wird gezeigt, wie eine Enttäuschung verkraftet, überwunden und in einen Entwicklungsschritt verwandelt werden kann? Wo lernen Kinder, die Fähigkeit zu trainieren, sich selbst realistisch, freundlich und geduldig zu bewerten und zu begleiten?

Wer bin ich – ohne Bewertung von aussen?

Bereits 1991 schrieb der Biogärtner und Klima-Aktivist Graham Bell: «In a world where it’s scientific to be critical, very few of us grow up with a real understanding of our worth.» Frei und in heutige Verhältnisse übersetzt erkannte er also schon lange, bevor es Facebook, Instagram & Co. gab: «In einer Welt, die uns permanent kritisch begegnet, ist es schwierig, eine realistische Vorstellung unseres (Selbst)Wertes zu entwickeln.» Dazu machte er ein sehr einleuchtendes Beispiel: «Millionen von Menschen sind ganz tolle Köche, aber nur wenige bekommen Gourmet-Sterne.» Sollen wir von unserer Kochkunst schlecht denken, weil wir keine öffentliche Anerkennung dafür bekommen? Wie kann ich mich an den Produkten meines Kochens freuen, wenn ich ständig messe, wie viel mir noch zum Stern fehlt? Anerkennung ist sehr wichtig, aber was brauchen wir viel mehr, um weiterhin Freude an unserer Kochkunst zu haben? Selbstwertgefühl. Zufriedenheit mit dem, was wir sind und (im Moment) leisten können.

Was sind Zeugnisnoten – für Sie?

Was sind Schulnoten denn eigentlich? Die amerikanische Psychologin Carole Dweck, über die ich hier schon geschrieben habe, hat zu diesem Thema den folgenden kleinen Test konzipiert:

Welcher Aussage stimmen Sie zu?
Eine Note ist…

  1. Eine Bewertung meiner Person.
  2. Eine Momentaufnahme meiner aktuellen Leistung.
  3. Eine sichere Prognose meiner zukünftigen Leistungen.

Für viele Menschen (auch Erwachsene!) fühlt sich Antwort Nr. 1 richtig an. Und es ist durchaus eine Realität: Schlechte Noten führen selten zu guten Gefühlen. Ganz besonders dann, wenn die Zeugnisnoten zur Einstufung, zum Diplom oder Abschluss oder zur Änderung in der Schulkarriere führen. Dann fällen sie natürlich ein Urteil. Aber es liegt an uns, ob wir daraus eine definitive oder eine provisorische Bewertung machen! Deshalb ist für Carole Dweck klar: Die richtige Antwort ist einzig Nummer 2: Eine Note ist eine Momentaufnahme der aktuellen Leistung. Ja, es kann sein, dass diese aktuelle Leistungsbewertung ungünstig ist. Diese Erkenntnis und auch die Folgen tun weh. Trotzdem ist die Zeugnisnote keine abschliessende Bewertung unserer Person. Und bestimmt auch keine sichere Prognose der möglichen zukünftigen Leistungen! Als Lerncoach darf ich immer wieder erleben, wie Menschen aus einer schwierigen Situation heraus neu starten und zur Höchstform auflaufen – allen Prognosen zum Trotz!

Was wollen uns die Zeugnisnoten sagen?

Noten spiegeln also im besten Fall eine Leistung, die von einer Lehrperson (hoffentlich möglichst) objektiv bewertet wird. Wenn wir konstruktiv mit Noten umgehen wollen, müssen wir den Fokus darauf legen, die Leistung dahinter zu überdenken:

  • Was habe ich gemacht, um diese Note zu bekommen? (Übrigens: Auch eine gute Note ist kein Zufall!)
  • Wo könnte ich mich verbessern?
  • Was habe ich nicht verstanden? Welche Lücken haben sich angesammelt?
  • Was wäre eine realistische Entwicklung in diesem einen Fach im kommenden Semester? (In der Regel ist eine Verbesserung von einer halben Note im Durchschnitt pro Semester möglich.)
  • Was brauche ich konkret, um mich zu verbessern?
  • Wer oder was könnte mir helfen?

Wichtig dabei ist, nicht allzu lange in der Vergangenheit zu verweilen und darüber zu sinnieren, was genau in die Misere geführt haben könnte. Viel besser ist es, rasch in den Lösungs-Modus zu wechseln. Die oben genannten Fragen führen von der schmerzhaften Vergangenheit in die (hoffentlich) hellere Zukunft – oder anders gesagt: Vom Grübeln ins Handeln.

Was Eltern tun können:

Mir scheint, auch Eltern sollten sich die oben erwähnten 3 Fragen stellen. Was bedeuten die Noten ihrer Kinder – für Sie? Gerade beim Blick ins Zeugnis ist die Gefahr gross, mit Nummer 3 zu antworten. Oft läuft fast automatisch ein Film im Kopf ab: «Super Zeugnisnoten – also bald Nobelpreisträger!» oder «Schlechte Noten – also lebenslang arbeitslos!» Beides ist natürlich Quatsch (und ich übertreibe absichtlich). Atmen Sie durch – versuchen Sie, dieses Zeugnis in einem grösseren Zusammenhang zu sehen. Die Leistungen der meisten Kinder schwanken im Verlauf der Schulkarriere. Oftmals sind es äussere Anlässe (und eher selten die permanente Ermahnung der Eltern), die zu einer merklichen Leistungssteigerung führen. Von der plötzlichen Verliebtheit in die Klassenbeste über die Entdeckung des Traumberufs bis hin zum Wunsch, mit der besten Freundin dieselbe Schule zu besuchen – die Motivationskicks sind vielfältig und oftmals überraschend!

Konkrete Tipps, um cool mit Zeugnisnoten umzugehen:

  • Freuen Sie sich nicht übermässig über gute Noten, ärgern Sie sich nicht übermässig über schlechte. Bevor Sie sich anstecken lassen von Freude oder Frust, stellen Sie Ihrem Kind lieber schlaue Fragen. Damit signalisieren Sie, dass die Verantwortung für die Noten in seiner Hand liegen: Was bedeutet Dir diese Note? Wie kommt es dazu? Wie zufrieden bist Du mit Deiner Vorarbeit/Vorbereitung? Was könntest du verbessern?
  • Fragen Sie auch bei guten Noten: «Wow – was hast du getan, um so gut abzuschneiden?» Besonders Kinder, die viel Hilfe erhalten, haben manchmal das Gefühl, der Erfolg gehöre gar nicht ihnen. Denken Sie miteinander darüber nach, was konkret getan wurde.
  • Sprechen Sie es regelmässig deutlich aus: «Du bist so viel mehr als Deine Noten. Wir lieben dich für das was du tust, wie du für dein Haustier sorgst, wie du mit Jüngeren umgehst, wie du in der Küche hilfst, wie du deine Hobbies verfolgst…» Es gibt immer etwas, was gelobt werden kann!
  • Viele Kinder denken, eine gute Note sei einfach Glück oder ein Zufallsprodukt – während sie sich für die schlechte Note die Schuld geben. Dabei steckt hinter der guten Note meist ein gutes Lernverhalten, mehr Interesse oder eine besondere Motivation. «Was hilft dir, dich in XY mehr anzustrengen? Wie könntest du das auch im Fach Y anwenden?» «Wie hast du diese Note geschafft – was hast du konkret dafür getan?» (Die Beteiligung im Unterricht geht meist vergessen – doch sie kann den grossen Unterschied machen!)
  • Vermeiden Sie Generalisierung und Katastrophisierung («Du gibst Dir ja NIE Mühe» oder «mit solchen Noten wird NIEMALS etwas aus Dir»). Die menschliche Entwicklungsfähigkeit ist grandios und nicht wenige Menschen mit rundweg gelungenen Biographien hatten einen schwierigen Schulstart. Was sie alle hatten (oder dringend gebraucht hätten): Eltern, die zu ihnen hielten – egal, welche Ziffern auf dem Blatt Papier standen, die einmal oder zweimal im Jahr ins Haus flatterten…

Wie denken Sie über Noten? Hinterlassen Sie doch einen Kommentar – oder schreiben Sie mir eine Mail. Ich bin gespannt und freue mich über einen Austausch über das leidige Thema Noten.