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Umgang mit der Zeit: Bist Du Zeitoptimist oder Zeitrealist?

Tust Du Dich im Umgang mit der Zeit schwer? Dann wärst Du kein Einzelfall! In meiner Lernpraxis habe ich oft mit jungen (und auch nicht mehr ganz so jungen) Menschen zu tun, die keine realistische Vorstellung davon haben, wie lange sie für eine Tätigkeit brauchen oder aber einfach gar nicht merken, wie (schnell) die Zeit vergeht. «Ups – schon wieder zwei Stunden verdaddelt…!» (In der britischen Tageszeitung «Guardian» wurde über die Schwierigkeiten im Umgang mit der Zeit und die Hintergründe für dieses Phänomen vor kurzem geschrieben. Hier nachzulesen.)

Wenn mir jemand sagt: «Ich habe gestern fünf Stunden lang Geschichte gelernt» bin ich nur beeindruckt, wenn dadurch eine Topnote erreicht wurde. Wenn das Resultat dagegen bescheiden ausfällt, waren die fünf Stunden wohl nicht so gut investiert. Schlimmer: Vielleicht wäre diese Note sogar ganz ohne Lernen erreicht worden?

Umgekehrt ist es auch richtig, dass viele Schüler/innen mit mangelhaften Noten ganz einfach zu wenig Zeit ins Lernen investieren. Ganz schön tricky, oder? Der Umgang mit der Zeit bestimmt tatsächlich massgeblich über den Lernerfolg. Wobei zwei Fragen wichtig sind:

  1. Wie viel Zeit hast Du tatsächlich mit Lernen verbracht? (10 Minuten, 2 Stunden, 3 Wochen…). Manche Jugendlichen denken, eine Stunde «Theorie überfliegen» genüge als Prüfungsvorbereitung.
  2. Was genau hast Du in dieser Zeit getan – anders gefragt: wie effektiv hast Du in dieser Zeit überhaupt gelernt?

Zeitoptimismus – und seine Folgen.

Es gibt Menschen, die eine sehr lockere Beziehung zur Zeit und zu «Deadlines» haben. Sie kommen ständig zu spät, trödeln gerne herum, vergessen sich in geliebten Tätigkeiten, verpassen Abgabetermine… Manchmal sind lediglich ihre Liebsten darüber genervt – denn wer immer warten muss, fühlt sich nicht wirklich respektiert und geschätzt, nicht wahr? Doch mitunter drohen auch gravierende Folgen: dann etwa, wenn eine zu spät eingereichte Arbeit nicht mehr angenommen oder mit Notenabzug bestraft wird.

Kann ein lockerer Umgang mit der Zeit auch positive Folgen haben? Ja, durchaus. «Zeitbieger» sind oft spontan, flexibel und können gut improvisieren. Einige nutzen den wachsenden Druck sogar recht geschickt, um erst richtig in Fahrt zu kommen und ihre Arbeit in einem Schwung durchzuziehen. Manche schaffen das sogar mit beachtlichem Erfolg. Allerdings oft zu einem Preis: Anderes (oder andere) bleiben dann manchmal liegen. Viele Teenies lernen genau so: Es wird für die nächste Prüfung gebüffelt, der aktuelle Schulstoff dagegen rutscht in den Hintergrund (und wird wieder vergessen).

Gründe für problematischen Umgang mit der Zeit?

Manche Forscher glauben, der Umgang mit der Zeit sei angeboren, respektive werde im Verlauf der Entwicklung ausgeprägt, andere mutmassen, es sei eine Frage der Persönlichkeit, wie Menschen mit ihrer Zeit umgehen. Eindeutig belegt ist: Menschen mit einem diagnostizierten AD(H)S bekunden oftmals mehr Mühe damit, die Zeit richtig einzuschätzen als neurotypische Personen. Offenbar gibt es sogar so etwas wie «Zeitblindheit», also das Unvermögen, die Zeit in ihrem Verlauf wahrzunehmen und/oder deren Verlauf richtig einzuschätzen. Mir scheint, auch der im Zusammenhang mit AD(H)S oft genannte «Hyperfokus» habe damit zu tun: Jemand lernt fünf Stunden lang Geschichte an einem Stück. «Das interessiert mich halt», ist dann die Erklärung. Wohingegen in Mathe («das check‘ ich eh‘ nicht») überhaupt keine Minute investiert wird.

Ebenso klar ist: Wer generell zu viel auf seiner täglichen To-Do-Liste hat, wird aus Überforderung im Umgang mit der Zeit eher unrealistische Annahmen treffen. Etwas zu verschieben oder ganz wegzulassen, ist dann eine «einfache Lösung» – und die verschafft einem erst einmal Erleichterung. Schon erlebt? «Heute habe ich nur 2 Dinge meiner To-Do-Liste geschafft – aber morgen bin ich dann doppelt so fleissig und schaffe alle anderen 2488 Dinge.» Womit die Entscheidung leicht fällt: «Ab aufs Sofa und Serien schauen – der Tag ist eh‘ gelaufen!»

Was machen Zeitrealisten anders?

Das folgende Beispiel aus meiner Lernpraxis mag verdeutlichen, wie der Umgang mit der Zeit entwickelt – und vor allem: realistischer gestaltet werden kann. Eine meiner jungen Klientinnen hat Ärger mit ihren Lehrpersonen, weil sie regelmässig zu spät kommt. Sie erklärt, dass sie «eigentlich» 20 Minuten von Zuhause bis zur Schule brauche. Ein klarer Fall von Zeitoptimismus! Denn nicht jeder Tag ist gleich, oder wenn sie nur zwei Minuten später startet und dann auf den Bus warten muss oder wenn Neuschnee liegt oder oder oder… Zeitrealismus bedeutet in diesem Fall, deutlich mehr «Pufferzeit» einzuplanen. Einer zeitblinden Person kann es helfen, im Geist den Weg abzufahren: diese Ampel hier könnte länger rot sein, hier gibt es eine lange Schlange vor der Rolltreppe, hier wird gebaut, da muss ich einen Umweg machen… Idealerweise erkennt die Person von selbst: «Ich rechne sicherheitshalber 10-15 Minuten mehr ein für den Schulweg.»

Ganz oft stelle ich mit meinen Klienten eine Hypothese auf, um ihnen zu helfen, über ihren Umgang mit der Zeit nachzudenken. Noch ein Beispiel: «Was denkst Du, wie lange wird die Vorbereitung für Prüfung XY dauern?» Ich frage nach, bis ich eine Schätzung in Stunden und/oder Minuten erhalte. Dann wird ganz akribisch geschaut: Was ist zu tun? (Hier wird jedes einzelne Lernziel erfasst und mit einer Schätzung versehen.) Wie viel Zeit bleibt dir noch? Wann (Tag, Uhrzeit) willst du was tun? Nicht selten sind die jungen Menschen überrascht darüber, wie krass sie sich verschätzt haben. Der Zeitvorrat wird in der Regel über- und die Dauer der Tätigkeit unterschätzt.

Methoden, die zu mehr Zeitrealismus führen:

Den eigenen Umgang mit Zeit einschätzen lernen:

Wer eine neue Tätigkeit beginnt, weiss: Vieles dauert am Anfang sehr viel länger als ich es gewohnt bin. Gerade Kindern und Jugendlichen, die in einer neuen Schulstufe, einer Lehre oder auf der Universität anfangen, fällt es schwer, den Zeitbedarf für ihre neuen Tätigkeiten richtig einzuschätzen. Deshalb rate ich ihnen: Führe eine Zeitlang (idealerweise mindestens eine, besser aber zwei Wochen) ein Arbeitsprotokoll, in dem Du Deine Hypothesen («Dafür brauche ich wahrscheinlich 30 Minuten») und die tatsächlich verbrauchte Zeit einträgst. Das braucht nicht mehr als eine Liste mit drei Spalten:

AufgabeGeschätzte ZeitTatsächliche Zeit
   
   
   

Genaues Tagesprotokoll liefert realistische Daten

In verschiedenen Situationen kann es sinnvoll sein, ein Tagesprotokoll zu führen. Dann etwa, wenn gar nicht klar ist, wohin die Zeit eigentlich «verschwindet». (Ja, ganz oft sind Smartphones, Tablets oder Spielkonsolen die unheimlichen Zeitfresser!) Wer ganz frei über seine Zeit verfügt, kann über jede einzelne Stunde des Tages Rechenschaft ablegen. Bei Kindern und Jugendlichen, die zu festen Zeiten in der Schule sein müssen, genügt es, wenn über ihre Freizeit abgerechnet wird.

So sieht ein einfaches Tagesprotokoll aus:

ZeitTätigkeit
07.00-08.00Frühstück, Reisezeit
08.00-12.00Schule
12.00-13.00Reisezeit, Mittagessen
13.00-14.00Chillen (Smartphone, Handy, Gamen…)
14.00-15.00Chillen
15.00-16.00Klavierunterricht, Reisezeit
16.00-17.00Chillen
17.00-18.00Hausaufgaben
18.00-19.00Hausaufgaben, Abendessen
19.00-21.00Chillen

Im Umgang mit der Zeit ist das Bauchgefühl oft ganz trügerisch: «Ich verbringe doch gar nicht sooo viel Zeit mit Gamen/Serien schauen/Mails schreiben/XXXXX!» Was gibt dagegen Klarheit? Ein Tagesprotokoll. Dokumentierte Zeit – Schwarz auf Weiss. Und nicht selten ist der Effekt, die gut oder weniger gut verbrachte Zeit so aufgelistet zu sehen, eindrücklich.

Mit älteren Lernenden erstelle ich im Coaching deshalb fast immer einen detaillierten Wochenplan (hier eine Vorlage als PDF). Dabei nutzen wir verschiedene Farben, um die Zeitfelder einzufärben. Beispielsweise: Arbeitszeit (blau = nicht frei verfügbar), Hobbies (z.B. Fussballtraining, rot) und wiederkehrende Veranstaltungen (z.B. Pfadi, Kirche, grün). BEVOR jetzt aber mögliche Lernzeiten eingezeichnet werden, bitte ich den jungen Menschen jeweils, in einer Lieblingsfarbe seine Freizeit einzutragen und dabei möglichst realistisch diejenigen Zeitfelder einzufärben, die ohnehin nie und nimmer als Lernzeit genutzt werden (z.B. Samstagmorgen 7.00 – 9.30 Uhr bei einem Teenager). Viele sagen: «Am Freitagabend nach der Schule will ich gar nichts mehr machen.» Also wegstreichen! Ein Wochenplan, der vor Pflichtarbeit strotzt, ist so demotivierend. Ebenso wie ein unrealistischer Plan, der ständig zu Frustrationen führt, weil er ohnehin nicht eingehalten werden kann. Interessanterweise bleiben am Ende immer weisse Felder – und das ist die Zeit, die zum Lernen genutzt werden kann.

Die Reaktion der Jugendlichen auf diese Planungsarbeit ist oftmals herzwärmend (alles Originalzitate):

  • «Oh – ich wusste gar nicht, dass ich so viel Freizeit habe!»
  • «Hm. Ich brauche ganz schön viel Freizeit!»
  • «Puh – ich bin froh zu sehen, dass ich gar nicht unbedingt ständig lernen muss.»
  • «Eigentlich peinlich, dass ich sage, ich hätte keine Zeit zum Voci-Lernen.»
  • «Meine Eltern haben recht. 20 Minuten Badezimmer putzen sollten wirklich drinliegen.»
  • «Ich finde, 6 Stunden freies Lernen pro Woche in meiner Situation eigentlich recht realistisch. Ja, ich bin bereit, alles dafür zu tun, dass es nicht mehr wird.»
  • «Lernen am Wochenende – bloss nicht! Dafür bin ich bereit, unter der Woche mehr zu tun, wenn nötig.»

Die detaillierte Darstellung hilft dabei, bewusste Entscheidungen zu treffen und/oder klarere Prioritäten zu setzen. Anders gesagt: über die Augen wird der Umgang mit der Zeit entwickelt und verbessert.

Tipps für Eltern:

  • Was Eltern von Primarschulkindern tun können, um ihren Kids bei der Entwicklung eines besseren Zeitgefühls zu helfen, habe ich hier schon beschrieben.
  • Hilfe bei Planung und Organisation ist in aller Regel eine wertvolle Hilfe. Viele Kinder und Jugendliche sind damit überfordert, da die entsprechenden planerischen Fähigkeiten erst in der Pubertät entwickelt werden. Wichtig ist jedoch, sie in den Prozess einzubinden und nach ihren Ideen zu fragen. Wie im obigen Beispiel mit dem detaillierten Wochenplan geschildert, machen vor allem Jugendliche dabei nicht selten interessante Entdeckungen – und sind danach viel zugänglicher für Veränderungsideen, als wenn wir Erwachsenen diese einfach «von oben herab» verordnen.
  • Ich erlebe immer wieder Eltern von Teenagern, die es nur sehr schwer ertragen, ihre Kinder beim «Herumhängen» zu ertappen. Einmal abgesehen davon, dass es selbstverständlich ein Zuviel an Handy- oder Spielkonsum geben kann: Jugendliche brauchen und verdienen auch Freizeit. (Wie diese zu gestalten ist, ist natürlich auch eine interessante Frage, die gemeinsam geklärt werden sollte.) Viele von ihnen haben 35-Stunden-Wochen. Von ihnen zu erwarten, dass sie jede freie Minute über den Büchern brütend verbringen, ist unrealistisch!

Fragen sind Türöffner!

  • Auch bei Jugendlichen, die (sehr) viel Zeit im Internet oder beim Gamen verbringen, sind Ratschläge wie «stell doch ab» oder «du musst halt mehr lernen» nicht besonders hilfreich. Es bringt mehr, Betroffenen zu zeigen, dass wir alle im gleichen Boot sitzen und im Umgang mit der Zeit noch (viel) lernen können: «Die Hoheit über die eigene Zeit ausüben – das ist gar nicht so einfach!» Fragen, die zum Nachdenken und Bewegen anregen, könnten folgende sein: Läuft bei Dir alles rund in der Schule? (Prima, weiter so. Oder:) Du bist notenmässig unter Druck? Ok – wollen wir mal schauen, wo die ganze Zeit hingeht? Auch Dein Tag hat nur 24 Stunden – wo willst Du ansetzen? Was ist Dir wichtig? Wo könntest Du Dich (vorübergehend) zugunsten des Lernens einschränken?
  • Meiner Erfahrung nach können Kids und Teens ihre Routinetätigkeiten recht gut einschätzen. «Wie viel Zeit brauchst Du, um dieses Dossier zu lesen?» oder «Wie lange dauert es, 15 Franz-Vokabeln zu repetieren?» Mühe macht es vielmehr, die Summe verschiedener Tätigkeiten zu berechnen und/oder verschiedene Tätigkeiten in einen Tages- oder Wochenplan zu packen. Ein Beispiel: Eine 14-jährige, die sich dafür entschieden hat, in den Ferien zu lernen, schätzt: «Eine Stunde täglich sollte genügen.» Um ihren Zeitoptimismus in Zeitrealismus zu verwandeln, schauen wir im Detail, was zu tun ist und wie viel Zeit tatsächlich dafür notwendig ist. Und siehe da: Sie hat zu knapp gerechnet. Der Vorteil des neutralen (!) gemeinsamen Forschens ist jedoch: Die junge Dame erkennt selber: «Da war ich wohl etwas zu optimistisch.» Hätten ich oder ihre Eltern ihr erklärt, dass sie eher 90 Minuten einrechnen sollte, wäre sie wahrscheinlich nicht sehr offen für eine Anpassung gewesen.