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Druck machen, damit gelernt wird? Lieber nicht!

Druck machen beim Lernen - Eltern üben oft unbewusst Druck aus.

«Ich übe doch keinen Druck aus auf mein Kind!» Vor ein paar Jahren hätte ich dies auch behauptet – vollkommen überzeugt von der Richtigkeit der Aussage. Leider weiss ich es heute erst besser. Den Druck, den ich damals – ungewollt, unbewusst – auf meine Kinder ausgeübt habe, kann ich nicht zurücknehmen. Immerhin: Ich habe mich entwickelt und bin heute als Mutter sehr viel entspannter. Und ich kann Eltern in ähnlicher Situation durch diese Erfahrung wahrscheinlich kompetenter beraten, als wenn ich mich nicht intensiv mit der Thematik auseinandergesetzt hätte. Eines weiss ich mit Sicherheit: Kaum jemand übt willentlich und bewusst Druck aus.

Versteckter Druck

Nicht selten machen wir Druck, ohne es zu merken. Zwischen dem, was wir sagen und dem, was wir unseren Kindern mitgeben, ist manchmal ein grosser Unterschied. Wie viele Eltern sagte auch ich früher oft tund gerne Dinge wie «Hauptsache, du wirst glücklich» oder «ich möchte einfach, dass du dein Bestes gibst» oder sogar «Noten sind ja gar nicht so wichtig…» Gleichzeitig ist mir entgangen, dass ich gegenteilige Botschaften aussandte, ganz ohne es zu wollen. Beispielsweise durch:

…Fokussierung auf Schule und Noten  

  • «Wie war’s in der Schule? Wie ist die XY-Prüfung gelaufen?»
    Manchmal überfallen wir Eltern unsere Kids schon unter der Tür mit diesen Fragen. Und nicht selten drehen sich die Gespräche mit Kindern (und vor allem mit Teenagern!) ausschliesslich um Schule und Noten. Besser: Interessieren wir uns doch (wieder mehr) dafür, was im Kinderkopf und -herz vor sich geht. Wofür brennt es gerade? Was findet es spannend? Worüber lacht es, was bringt es zum Nachdenken? Es ist wichtig, am ganzen Leben unserer Kinder teilzuhaben, um ihm zu signalisieren: Du bist so viel mehr als deine Schulnoten! Wenn es Ihnen schwerfällt, den Fokus immer wieder von Schule und Noten wegzunehmen, können Sie es sich bewusst vornehmen, beispielsweise beim Essen ganz andere Gesprächsthemen anzuschneiden.
  • «Was, eine 5.5? Supertoll, komm, das feiern wir….!!»
    Und was machen wir bei einer 4? Trauern? Ignorieren? Bestrafen? Wenn wir uns übermässig freuen oder aufregen über einzelne Noten, signalisieren wir den Kindern: «Jede einzelne Note ist sehr, sehr wichtig und ich ertrage es nicht, wenn du nicht ständig deine Bestleistung zeigst.» Hier können wir Druck wegnehmen, indem wir die Emotionen ein wenig zurückfahren – und dem Kind clevere Fragen stellen: Bist Du zufrieden mit dir? Ist dir die Prüfung leicht oder schwer gefallen? Hast du diesmal etwas anders gemacht? Was hast du bei diesem Thema gelernt, was Du nie wieder vergisst?

… Drohen und Bestrafen

  • «Wenn du jetzt nicht (sofort) mehr für die Schule machst, wirst du ganz bestimmt…»
    Ich bin immer wieder überrascht, wenn ich höre, wie vielen Erwachsenen in ihrer Kindheit eine ganz, ganz düstere Zukunft prophezeit wurde. Die meisten von ihnen haben aber durchaus beachtliche Lernwege hingelegt! Es ist verständlich, sich Sorgen zu machen um die Zukunft unserer Kinder, aber dabei sollten wir realistisch bleiben. Ständiges Katastrophisieren ermüdet und führt dazu, dass uns die Kids nicht mehr ernst nehmen. Wer immerfort in Sorgen dreht, tut gut daran, Hilfe zu suchen. Angst ist kein guter Ratgeber. Als Eltern sollten wir weder die Angst mit unseren Kindern teilen, noch sie an sie weitergeben. Unsere Rolle ist es, Zuversicht und Vertrauen in ihre Fähigkeiten zu vermitteln. Das werden sie in Zukunft brauchen.

…Kontrolle und Drängeln

  • «Was hast du heute auf? Hast du schon angefangen…? Komm, zeig mal…!»
    Stellen Sie sich vor, am Arbeitsplatz wird jeder Ihrer Schritte kommentiert oder kontrolliert. Unerträglich, oder? Könnten Sie so noch Motivation entwickeln? Kindern geht es ähnlich. Wer nicht selbst entscheiden und gestalten kann, verliert die Freude an einer Tätigkeit. Ich erlebe immer wieder Kinder und Teenager, die nicht einmal mehr stolz sind darauf, wenn ihnen eine Prüfung gut gelungen ist. Sie zweifeln eher daran, ob sie es allein auch geschafft hätten. Drängen Sie Ihre Hilfe nicht auf – aber bieten Sie sie regelmässig an. Damit zeigen Sie Ihrem Kind: «Ich traue dir das zu – aber im Notfall bin ich für dich da.»

… Zuschreibung von Eigenschaften

  • «Ich bin halt auch so eine Perfektionistin, das hat sie von mir.»
    Verhaltensmuster sind kein Schicksal, selbst wenn sie von Generation zu Generation weitergegeben werden. Wir können diese Muster unterbrechen, sobald wir darüber nachzudenken beginnen. Es gibt übrigens auch keinen Grund, (insgeheim) stolz zu sein auf den eigenen Perfektionismus. Auf Dauer ist Perfektionismus ein geradezu gesundheitsschädigendes Verhalten, das in uns und anderen sehr viel Druck aufbaut. Das bedeutet nicht, dass Sie oder Ihr Kind sich nicht hohe Ziele setzen dürften! Die Gretchenfrage ist: Wie viel ist gut genug? Und wie viel ist zu viel? Eine mitunter schwierige Gratwanderung! Aber es lohnt sich, sie bewusst zu gehen. Und unseren Kindern hilft es, wenn wir den eigenen Perfektionismus nicht als unabänderliches Schicksal hinnehmen, sondern (miteinander) daran arbeiten.
  • «Du mit deiner Intelligenz schaffst das doch spielend…!!»
    Selbst die begabtesten Kinder stehen mal am Berg und wissen nicht weiter. Warum es ihnen dann nicht hilft, «Du schaffst es!» zu hören, habe ich hier schon einmal ausführlich erklärt. Die Betonung der Eigenschaften (intelligent, clever, fleissig, begabt, talentiert) führt dazu, dass die Anstrengung weniger positiv bewertet wird. Viele Kinder und Jugendliche denken ernsthaft, gute Lerner sind diejenigen, die nicht lernen müssen oder besonders schnell fertig sind. Das ist ein fataler Irrtum.

…Ungeduld und Unverständnis

  • «Dafür habe ich jetzt wirklich keine Zeit…!!»
    Es ist wirklich nicht einfach, Beruf und Familienleben unter einen Hut zu bringen. So viele Anforderungen, Pflichten, Aufgaben…. Trotzdem: Nie Zeit zu haben für Kleinigkeiten, Banalitäten oder Wichtiges, wirkt sich schädlich aufs Klima aus. Schaffen Sie bewusst immer wieder Zeitinseln, in denen Gespräche möglich werden.
  • «Warum sollte es dir besser gehen als mir?»
    Nein, Quatsch – so etwas sagt natürlich niemand! Aber denken wir das vielleicht manchmal, wenn uns das Wasser bis zum Hals steht? Dass wir alle halt nicht anders können und es ertragen müssen? Dass das Leben nunmal hart ist? Dass es halt leider dazugehört, dass ständig die Nerven blank liegen? «Happy Wife, happy life» sagt man in Grossbritannien. (Und ich bin sicher, es gilt auch für (Ehe)Männer!) Sorgen Sie dafür, dass es Ihnen gut geht. Die Elternrolle ist keine einfache – es geht allen besser, wenn es Ihnen gut geht! Sorgen Sie für Ausgleich, treiben Sie Sport, machen Sie Entspannungsübungen, spazieren Sie im Wald, füllen Sie Ihre Batterien – tun Sie, was immer Ihnen guttut. Damit Sie nicht unbewusst den eigenen Druck weitergeben. Unsere Kinder und Jugendlichen stehen heute schon unter Druck. Wir müssen keinen mehr hinzufügen.

Was wir tun ist wichtiger, als das, was wir sagen

Unsere Kinder verbringen viel Zeit mit uns und in unserer Nähe. Natürlich werden unsere Worte gehört und wahrgenommen – aber ebenso wirkungsvoll sind andere Botschaften: Mimik, Gestik, Stimmung, Verhaltensmuster. Nun müssen wir nicht gleich Heilige werden oder jede unserer Äusserungen stets minutiös überprüfen. Aber falls Ihr Kind deutliche Symptome von Leistungsstress zeigt – Prüfungsängstlichkeit, übertriebenen Ehrgeiz, Anzeichen von Perfektionismus – dann wäre der Anlass gegeben, darüber nachzudenken, was Ihr Beitrag dazu ist. Auf lange Sicht tun Sie Ihrem Kind keinen Gefallen, wenn Sie in schulischen Dingen Druck ausüben. Es mag zwar vielleicht Höchstleistungen erbringen – doch zu welchem Preis? Müdigkeit, Demotivation, Unlust bis hin zur Erschöpfung  – auch davon sind heutige Kinder und Jugendliche leider nicht gefeit.  Machen Sie Druck – zu viel Druck – ohne es zu merken? Sprechen Sie mit Ihrem Kind oder Teenager darüber. Wenn Sie nicht weiterkommen, bin ich gerne für ein klärendes Gespräch für Sie da.

Ausnahmezeiten verlangen nach Ausnahmemassnahmen

Es mag Zeiten geben, in denen es richtig ist, die Noten etwas mehr in den Vordergrund zu stellen. Dann, wenn es um wichtige Weichenstellungen geht, etwa den Übertritt auf die Oberstufe, die Lehrstellensuche oder das Bestehen einer wichtigen Aufnahme- oder Abschlussprüfung. In der restlichen Zeit sollten wir alle aber auch hin und wieder ein bisschen faul sein dürfen, trödeln und einfach so in den Tag hineinleben. Die geistige und körperliche Gesundheit profitieren davon. Tom Hodgkinson hat ein lesenswertes Buch darüber geschrieben: «Anleitung zum Müssiggang.»