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Hüte Dich vor Bekannten!

Hüte Dich vor Bekannten (beim Lernen)
Hüte Dich vor Bekannten (beim Lernen)
Allzu vertraut ist ungesund beim Lernen.

Ganz früh schon haben wir gelernt, uns vor Unbekannten in acht zu nehmen. «Hüte Dich vor Fremden!» ist ein guter und wichtiger Rat, den Eltern ihrem Kind geben. Beim Lernen allerdings ist es genau umgekehrt, da muss es heissen: «Hüte Dich vor dem Bekannten!»

Viele Schüler erzählen mir, dass sie sich intensiv auf eine Prüfung vorbereitet haben und am Abend vor dem Test überzeugt waren, den Stoff zu kennen. Dennoch sei das Resultat der Prüfung enttäuschend ausgefallen. Wenn ich sie frage, wie sie sich denn vorbereitet hatten, sagen die meisten, sie hätten den Stoff (das Dossier, die Seiten im Buch, ihre Notizen, ihre Zusammenfassung etc.) mehrmals gelesen.

Die meisten sind überrascht, wenn ich ihnen erkläre, dass das wiederholte Lesen zwar eine der häufigsten, gleichzeitig aber auch eine der ineffizentesten Lernstrategien ist. *

Warum ist das so? Schauen wir doch mal, was im Kopf passiert, wenn wir etwas mehrmals lesen:

  • Bereits nach dem zweiten Lese-Durchlauf kommen mir die Informationen bekannt oder vertraut vor.
  • Wir Menschen mögen das Vertraute – es gibt uns ein Gefühl von Sicherheit. Beim wiederholten Lesen entsteht also der Eindruck: «Ja, kenne ich – prima – alles gut!»
  • Der Gedanke «ich kenne das, also kann ich es» ist dann nicht weit weg. Leider ist er aber eine Illusion!
  • Etwas wiedererkennen heisst aber nicht, etwas wiedergeben zu können! Kennen ist nicht Können!
  • Ich weiss erst, ob ich etwas erklären/aufsagen/benennen/unterscheiden/vergleichen… kann, wenn ich genau diese Tätigkeiten ausübe: ich erkläre, nenne, sage auf, berechne… Mit anderen Worten: Ich konsumiere nicht einfach Text, sondern ich mache aktiv etwas damit.
  • Kurz gesagt: Erst wenn ich mich abfrage, weiss ich, ob ich etwas kann. Erst, wenn ich die richtige Antwort geben kann, habe ich die Gewissheit, dass ich den Stoff gelernt habe.

Beim reinen Lesen werden meine Gedanken vom Autor oder von der Autorin des Textes geführt. Ich kann (meistens) leicht nachvollziehen, was da gesagt wird. Der Autor, die Autorin des Textes führt mich durch die – mal schwierigere, mal leichtere – Landschaft der Ideen, Formeln oder …. Vertrauensvoll folge ich ihm oder ihr. Sobald ich aber nicht mehr an der Hand geführt werde (und das ist spätestens in der Prüfung der Fall), bin ich verloren. Wenn ich nicht genau dies geübt habe, kann ich die Ideen, Gedanken, Informationen, Fakten nicht alleine reproduzieren.

Besser als wiederholtes Lesen: Abfragen

Statt dass wir ein- und denselben Text mehrmals lesen (was mich persönlich ohnehin schnell langweilt), gehen wir so vor: Nach dem ersten Lesen machen wir uns über den Text her und versuchen, so viele Informationen wie möglich daraus heraus zu quetschen.

Meistens gehe ich absatzweise vor, bei sehr komplexen Texten sogar satzweise. Sobald ich also die kleine Textportion gelesen habe, frage ich mich:

  • Was habe ich da gerade gelesen? Ist das wichtig? (Als Faustregel könnte gelten: Wichtig ist, was ich in einem Jahr noch wissen will.)
  • Kann ich es in eigenen Worten formulieren? Wie würde ich es jemandem erklären?
  • Kann ich es aufzeichnen?
  • Steckt da eine Information drin, die ich repetieren muss, um sie zuverlässig wiedergeben zu können? (Falls ja, würde ich diese Information auf eine Lernkarte schreiben, um sie in den nächsten Tagen mehrmals abzufragen.)

*John Dunlosky von der Kent State University hat 700 Forschungsarbeiten über Lernpraktiken untersucht, um herauszufinden, was am besten funktioniert. Seine Rangfolge ging von «empfehlenswert» bis «hinderlich». Wiederholtes Lesen bekam bei ihm das Prädikat «hinderlich». (http://journals.sagepub.com/stoken/rbtfl/Z10jaVH/60XQM/full)